Jeder Ort besitzt einen spezifischen Geist, eine Atmosphäre, die als Genius Loci, als Geist des Ortes, bekannt ist. Dieser Terminus findet sich sogar in Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung wieder. Der Genius, der den Ort trägt, ihm Geist und Sinn gibt, drückt sich auf verschiedensten Ebenen aus: Es kann die Mundart sein, die hier gesprochen wird, das vorwiegend verwendete Baumaterial, wiederholt auftretende Muster in der Geschichtsschreibung, berühmte Persönlichkeiten mit ihrer Charakteristik, die hier geboren wurden oder gewirkt haben, es können Heilige sein, die hier verehrt werden und die Topografie, auf der eine Siedlung erbaut wurde. Stehen diese verschiedenen Ausdrucksweisen des Genius Loci sinnhaft zueinander, d.h. wird ein Muster erkennbar, ein roter Faden, der die verschiedenen Faktoren miteinander verbindet, so sprechen wir vom Mythos des Ortes.
Der Mythos des Ortes ist folglich kein Einzelfaktor, es ist die Geschichte, die der Ort erzählt, die Bilder, die er malt, die Musik, die er komponiert,... Oft macht sich der Ortsmythos an bestimmten Zahlenverhältnissen fest. Rom ist auf 7 Hügeln erbaut, nicht auf 12 oder 4. Die Stadt Freising dagegen zeigt wiederholt die Dreiheit in Sakralbauten, Städtebau und Topografie. Dies ist so offenkundig, dass auch die nicht mit der Geomantie vertrauten Einheimischen von den drei prägenden Hügeln der Stadt sprechen: Dem Nährberg, dem Lehrberg und dem Wehrberg. Die bayrische Landeshauptstadt München dagegen zeigt eine deutliche Polarität, also Zweiheit, die am stärksten durch die beiden ältesten Sakralorte der Stadt – die Frauenkirche und St.Peter – auf zwei heute kaum mehr sichtbaren Hügeln in Augenschein treten.
Es wäre kein echter Ortsmythos, wenn sich nicht auch die eine oder andere Legende über die Stadt oder gar die Gründungslegende selbst darin einflechten würde. So wird Augsburg in seinem Mythos von der Stadtgöttin Cisa geprägt, die sich auch in der unterschiedlichen Qualität der Kirchen wiederfindet. Die erwähnte Polarität Münchens haben wir z.B. durch die zwei Schutzpatrone der Stadt – Maria und St. Ulrich – und ihren jeweiligen Mythen verankert.
Der Mythos des Ortes kann vielfältig sein und unterscheidet sich daher in seiner Charakteristik von Ort zu Ort. Mit einer der stärksten Faktoren des Ortsmythos ist der gebaute Raum. Der Mythos kann dabei, muss aber nicht, den Baumeistern bewusst gewesen sein. Auch oder vielleicht sogar gerade unbewusste Synchronizitäten können ein starker Ausdruck des Ortsgeistes sein. Die gebaute (Kirchen, Stadtachsen, u.a.) oder natürliche (Berge, Hügel, Flüsse,...) Landschaftstempelstruktur (siehe auch den Beitrag Astrale Landschaftstempel) verkörpert buchstäblich den Genius Loci. Der Raum wird zum Körper des Ortsgeistes und wie unsere Physiognomie auch unseren Charakter und unser Wesen widerspiegelt, so ist der Landschaftstempel ein Form gewordener Ortsmythos. Wenn z.B. bei der Stadt Suhl auf drei umgebenden Bergen drei Frauen (als feenartige Gestalten) geisterhaft umgehen und diese in ihren in den Legenden erwähnten Farben Bezug zu einander nehmen, dann ist dies ein mächtiger Ortsmythos, der auf die Landschaftstempelstruktur der dreifachen Göttin verweist: Der Domberg mit der heiligen Odilia als weiße Göttin, der Schelrod, wo eine weibliche Gestalt am Roten Bach sitzt und Hochzeitspaaren ihren Segen gibt und der Döllberg, auf dem eine Frau in schwarzen Trauerkleidern umgeht und wo es Brauch war schwarze Beeren zu sammeln. Weiß, Rot und Schwarz, die Farben der dreifachen Göttin.
Den Mythos des Ortes zu kennen, in dem man wohnt, gibt einem oft genug auch Parallelitäten zum eigenen Lebensmythos zu erkennen, denn nicht umsonst haben wir uns bestimmte Orte für bestimmte Lebensphasen ausgesucht. Das eigene Wesen und der Genius Loci schwingen hier ein stückweit gleich.
Ortsmythen werden 2019 u.a. in folgenden Exkursionen und Seminaren erfahrbar gemacht:
16.3.2019 Kraftort München
30.3.2019 Die Kraft der Schwarzen Madonna (Altötting)
31.8.2019 Welt zwischen den Welten – Schlosspark Nymphenburg
4.-6.10.2019 Altitona – Der heilige Berg der Göttin (Mt. Sainte Odile)
Bild © Stefan Brönnle [verschiedene Vorlagen: AdopeStock, Fotolia, Thinkstock]
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