Hildegard ist natürlich fest im christlichen Weltbild verwurzelt. Dennoch scheinen in ihren Visionen Symbole durch, die wir auch in der Geomantie als wiederkehrend erkennen können. U.a. in ihrem Buch „Scivias – Wisse die Wege“ (1141-1151) (aber auch Liber Vitae Meritorum und vor allem Liber Divinorum Operum) beschreibt Hildegard akribisch genau, was sie in ihren Visionen gesehen hat. Der Detailreichtum ihrer präzisen Beschreibungen sollte uns in unseren Wahrnehmungen ein Vorbild sein!
„An seiner Rundung zeigte sich außen ein Kreis von leuchtendem Feuer und unter diesem ein anderer Kreis von schwarzem Feuer. Der Kreis von leuchtendem Feuer übertraf an Dichte zweimal den schwarzfeurigen Kreis, und diese beiden Kreise waren miteinander verbunden , wie wenn sie ein Kreis wären …“ (Liber Divinorum Operum, zweite Vision). Exakt gibt Hildegard hier die Ausdehnungsverhältnisse an. Ihre Angaben sind dabei so exakt, dass wir leicht Ihre Beschreibungen mit den erst später hinzugefügten, bekannt gewordenen Bildern vergleichen können. Dabei fällt auf, dass die Bilder tatsächlich immer wieder auch von ihren präzisen Angaben abweichen!
Im Buch Liber Divinorum Operum entwickelt Hildegard eine eigene
Kosmologie. Hierbei beschreibt sie die auch heute noch in der
Geomantie üblichen vier Elemente im Aufbau des Kosmos und setzt
diese in Beziehung zum kosmischen Menschen: Schädel und Stirn
entsprechen den Feuerzonen, das Gehirn der Sonne, die Augen und Ohren
dem Mond, die Nase dem Äther, die Zunge den Planeten usw. So
beschreibt Hildegard den ganzen (kosmischen) Menschen bis zum
Gefäßsystem, das dem Meer und den Flüssen entspricht. Hier können
wir nicht anders, als in diesen Visionen ein Symbolsystem
wiederzuerkennen, das bis heute in geomantischen Systemen in sehr
ähnlicher Weise vertreten wird.
In vielen ihrer Visionen ist auffällig, dass Hildegard selbst im erlebten Ekstasezustand der visionären Schau sehr präzise Angaben der Himmelsrichtungen macht: „Darauf sah ich nahe der nördlichen Ecke nach Osten hin eine Gestalt…“, „Diese Gestalt hatte ihren Rücken nach Norden gewendet…“, „Über den ganzen westlichen Bereich hin jedoch erblickte ich eine abscheuliche, rauchende Finsternis. Aber nahe der nördlichen Ecke dieses Bereichs quoll….ein tiefschwarzes Feuer hervor…“ usw. (Liber Divinorum Operum). Hildegard zeigt hierbei eine starke Verbindung zur Erde und ihren Himmelsrichtungen, wobei die Richtungen stets mit einer tiefen Symbolik verbunden sind. Die in den geomantischen Systemen vertretenen seelisch erfahrbaren Richtungsqualitäten sind auch Hildegard nicht fremd.
Hildegard von Bingen zeigt damit eine ausgesprochene Erdzugewandheit, selbst, wenn sie kosmologische Verhältnisse beschreibt. Dies geht soweit, dass von ihr auch sehr präzise Beschreibungen des weiblichen Orgasmus überliefert sind. Hildegard ist folglich alles andere als eine weltferne Mystikerin im abgeschiedenen Kloster, ja, sie bricht sogar mit der Körperfeindlichkeit der damaligen Kirche.
Im Buch Scivias nun trennt sie deutlich zwischen Vision und Interpretation der Vision. Während wir in letzteren, von der auch Hildegard vehement betont, auch diese kämen von Gott (wie sollte sie auch anders?) deutlich das christliche Weltbild wiedererkennen können, könnte man die Visionen selbst durchaus auch häufig anders deuten: Da werden drei Frauen beschrieben, die in einer Quelle stehen. Die eine rot, die andere weiß, die dritte schwarz. Sie erinnern in ihrer Beschreibung an das Bild der dreifachen Göttin in eben diesen Farben. Die drei Gestalten werden von Ihr als Liebe, Demut und Frieden gedeutet. Im Scivias-Kodex (Tafel 17) sieht Hildegard ein brennendes Licht wie einen hohen Berg, von dem Zungen ausgehen. Vor diesem Licht sieht sie weiße Gestalten. Auf dem Weg vor ihnen liegt ein ungeheuer großer und langer schwarzer Wurm auf dem Rücken, gefesselt an Händen und Füßen mit einer roten Kette. Wieder treten uns die Farben weiß, schwarz und rot entgegen und – lassen wir die Interpretation der Schau außer Acht – können wir darin den Erddrachen wiedererkennen, der gefesselt ist. Die weiß-kristallenen Gestalten aber erinnern an die Lichten Ahnen, die Sidhe.
Es lohnt sich m.E. Vision und Interpretation deutlich zu trennen, wie es ja auch Hildegard selbst vormachte, und die Visionen der Hildegard aus heutiger Perspektive neu zu interpretieren.
Dass Hildegard akribisch exakt die Wirkung von Pflanzen – auch auf der Seelenebene – beschreibt, muss hier nicht extra erwähnt werden. Weniger bekannt ist aber vielleicht, dass sie auch die geistig-seelische Qualität der Flüsse in Physica beschreibt, die in ihrer Heimat flossen: Rhein, Main, Donau, Mosel, Nahe und Glan.
So erscheint Hildegard von Bingen als eine Universalgelehrte, obgleich sie sich selbst gerne als „ungebildet“ bezeichnete. Ihre Visionen enthalten großen Detailreichtum in der Beschreibung des Aufbaus des Kosmos, der Elemente und des energetischen Menschen. Ihre Visionsbilder zeigen Farbsymboliken und mythologische Gestalten, die wir heute aus geomantischer Perspektive auch ganz anders deuten könnten, als es Hildegard in ihrem kirchlichen Umfeld tat. Und ihre Beziehung zur Erde ist augenfällig in der deutlichen Richtungsverortung, sowie in der Seelenbeschreibung ihres landschaftlichen Umfeldes.
Geomantieausbildung "Leben mit Gaia - Der Auftrag der Erdenhüter"
Titelbild © shutterstock AI Generator
Andere Bilder: Scivias
Kommentare