„Falsche Schlange", „dumme Gans", „du siehst aus wie ein Schwein"; Tiermetaphern sind in unserem Sprachgebrauch tief verankert. Sie nehmen Bezug auf die sehr alte Vorstellung, dass der Mensch mit Teilen der Natur, in diesem Falle einem Tier, wesensverwandt sein kann. Man nennt dies auch Totemismus.
Das Wort „Totem" ist eine Ableitung aus der Sprache der Anishinabe-Indianer (Südost-Kanada), wobei die Begriffe ototeman (blutsverwandte Geschwister) und nintotem (Familienabzeichen nach Tiernamen) als Namenswurzel genutzt wurden. Der Totemismus umschreibt die ethnologische Vorstellung, das das Tiertotem eine Art persönlicher Schutzgeist, ja mehr noch eine Seelenverwandtschaft darstellen würde.
Noch heute sind totemistische Vorstellungen in Zentral- und Südafrika verbreitet, bei einigen australischen und melanesischen Stämmen und bei indigenen Völkern Mittel- und Südamerikas, die nicht christianisiert sind.
Das Tiertotem, mit dem man wesensverwandt ist (Individual-Totemismus) ist dabei durchaus von Hilfsgeistern wie z.B. Krafttieren zu unterscheiden. Es bestimmt den Charakter eines Menschen und kann sich sogar stark auf dessen Physionomie auswirken. Es ist dabei nicht zwingend das Lieblingstier einer Person, da dieses (ebenso wie das Krafttier) auch gerade jene Charaktereigenschaften, bzw. Seelenanteile repräsentieren kann, die sozusagen im Mangel sind und durch das Krafttier oder Lieblingstier ausgeglichen werden. Vielmehr spiegelt das persönliche Totemtier eine geist-seelische Beziehung dar, die schwer in Worte zu fassen ist.
Ein in der Ethnologie klassisches Beispiel ist der Clan der Arrente in Australien. Hier herrscht das Weltbild vor, dass man sein Totem von den Tjuringas (heiliges Steinobjekt der Ahnen) des heiligen Ortes empfängt, an dem die Mutter kurz vor den Empfängnis vorbeikam. Das Totem, der Tiergeist, wird hier als ein Fragment der Erdenseele wahrgenommen, der sich zusammen mit der menschlichen Seele inkarniert. Bei den nordamerikanischen Prärieindiandern indessen erhält man seinen persönlichen Tiergeist durch eine individuelle Visionssuche, die oft mit Adoleszenzriten verbunden ist. In beiden Fällen handelt es sich dann aber um ein „Alter-Ego", um ein Spiegel-Ich der Seele. Während – je nach Tradition – Krafttiere wandelbar sind, bleibt das Tiertotem das ganze Leben mit dem Menschen verbunden.
Der Totemismus, der in der Ethnologie immer wieder beschrieben wurde, reizte auch die Psychologie zu Erklärungsversuchen: Für Sigmund Freud war der Totemismus in erster Linie ein Regulativ, das auf der Inzestscheu basierte. Im weltweiten Vergleich ist es in der Tat so, das sexuelle Beziehungen zwischen zwei Menschen desgleichen Totems strengen Tabus unterliegt. „Fast überall wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, dass Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie." So Freud in „Totem und Tabu". Nicht erklären konnte Freud damit allerdings, warum der Kollektiv-Totemismus (Menschen fassen sich in Totem-Clans zusammen) weit über die genetische Verwandtschaft hinausreicht.
Auch im zweiten weltweiten Konsens des Totemismus unterschiedlicher Kulturen scheiterte Freud mit seinem Erklärungsmodell. Neben dem sexuellen Tabu dürfen die „verwandten" Naturobjekte weder getötet noch beschädigt oder gegessen werden (In Zeiten großer Not dürfen Totem-Tiere bei einigen Ethnien hingegen nur von Personen getötet werden, die diesem Totem angehören). Dies ist jedoch als sexuelles Regulativ vollkommen unsinnig.
In der Tierphobie, also der Angst vor einem bestimmten Tier, sah Freud dagegen eine individualpsychologische Entsprechung zum Totemismus mit negativer Ausprägung, die auf einer Vaterbeziehung beruhe.
Der Psychologe Luitgard Brem-Gräser entwickelte 1957 das Konzept der „Familie in Tieren", das stark auf der Idee des Totemismus aufbaut und als projektives Verfahren als Untersuchungsmethode bei Kindern angewendet wird. Das Kind stellt dabei zeichnerisch die Familienangehörigen als Tiere dar. Das Konzept bleibt jedoch in der individuellen freien Interpretation des Psychologen hängen und untersucht z.B. nicht, inwiefern wiederum das Kind selbst Seelenbeziehungen zu verschiedenen Tieren besitzt.
In der kausalgenetisch implizierten Psychologie wird der Totemismus dagegen so erklärt, dass durch den Evolutionsprozess quasi alle Tiere als Archetypen in der menschlichen Seele verankert sind. Eine Idee, die Carl Gustav Jung bereits mit seinem Unio-Mystica-Modell vertreten hatte: Die mystische Einheit der Seele mit Naturkräften als Archetyp.
Aus meiner persönlichen Sicht mangelt es den psychologischen Modellen am wirklichen Verständnis der Wesensidentität. Auch die im Dutzendpack im Internet erhältlichen Test „Welches Tier steckt in Dir?" weisen eher auf eine metaphorische Tierverwendung hin, wie sie eben in unserem Sprachgebrauch verankert ist: Bist Du stolz, bist Du ein Löwe! Hierzu kann man getrost sagen, solange Du einen solchen Tiertest brauchst, hast Du die wahre Kraft des Tiertotems noch nicht erfahren.
Als eine Art „Dualseele" ist Dein Totemtier aufs engste mit Dir verknüpft. Sicherlich gibt es einige Eigenschaften, die im Außen sichtbar werden und bei denen die Meinung einer vertrauten Person helfen kann, dieses zu entschlüsseln: Bist du eher aggressiv in Deiner Außenweltbegegnung, oder eher ein „Fluchttier" bei Problemen? Bist Du agil oder behäbig? usw. Manchmal zeigt sich Das Totemtier auch im Gesicht, wenn man seinem Gegenüber lange Zeit in die Augen blickt (was u.U. auch mkt dem Spiegel funktioniert). Doch das wesentlichste Indiz ist meist, dass Du eine geradezu magische Anziehungskraft zu diesem Tier verspürst. Diese kann durchaus auch angstbesetzt sein, insofern das „Tier in Dir" noch nicht angenommen wurde, bzw. als Seelenanteil ein Splitterdasein führt. Oft kann es – insofern das jeweilige Tier überhaupt noch frei lebend anzutreffen ist – zu seelisch tief erschütternden Tierbegegnungen kommen, bei dem Dir das entsprechende Tier oft minutenlang „unverwandt" (eigentlich müsste es ja hier „verwandt" heißen) in die Augen blickt und etwas in Dir zu entfesseln scheint. Träume, in denen Du die Haut des Tieres überstreifst, können Teil des Erkenntnisprozesses sein. In der Mythologie ist die Spiegelungsseele des Tieres u.a. im Werwolf präsent, aber auch in Märchen wie „die sieben Raben" oder „die sieben Schwäne".
Die Kraft, die Du aus der bewussten Identitätsannahme des Tieres gewinnst ist unbeschreiblich. Persönlich kann sich bei mir dadurch die Wahrnehumg vollkommen verändern: Der Geruchssinn wird gestärkt, die körperliche Kraft nimmt zu, die Lust auf bestimmte Lebensmittel verändert sich usw.
Die Oberflächlichkeit der psychologischen Anwendung dieses tiefgreifenden Seelenerlebnisses, oder gar die Tests als Entertainment in Illustrierten zeigen, wie weit wir uns als Kultur davon entfernt haben, unsere Seele als ein komplexes, zutiefst mit der Erde und ihren Wesen verbundenes System zu verstehen. Das persönliche Totem zu entdecken kann umgekehrt ein wesentlicher Schritt zurück in eine erdbezogene Kultur sein.
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Bild © Stefan Brönnle
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