Die zweischänzige Meerjungfrau ist an vielen Kirchenportalen zu sehen, aber auch in der Heraldik ist sie allgegenwärtig: Die Städte Isen und Zusamaltheim haben die Melusine ebenso im Wappen wie die Adelswappen der Rieter von Kornburg, Lusignan, Wybert, Hoefflinger, u.v.a.
Im Stadtwappen wird die zweischwänzige Meerjungfrau auch häufig schlicht als „Sirene" bezeichnet, obgleich die antiken Sirenen eher auch Vogelwesen waren.
Die französische Hochadelsfamilie Lusignan führt sich auch genealogisch auf das mythische Meerwesen zurück. Nach deren Familienlegende war Melusine einst die Tochter des schottischen Hochkönigs und einer Fee. Sie hatte magische Fähigkeiten und als ihr Vater sie ungerecht behandelte, sperrte Melusine ihn in ein magisches Gefänginis, aus dem es kein Entrinnen gab. Für diese Tat wurde Melusine von ihrer Feen-Mutter verflucht: Einen Tag in der Woche, den Samstag [Tag der Erde], musste sie sich in ein Halbwesen verwandeln. Je nach Sagenvariation war dies ein Wesen halb Mensch und halb Schlange oder Fisch. Die Schlange stellt Melusine daher hier schon in eine Reihe mit mythischen Herrschern, die die Urkraft kontrollierten, wie z.B. mit dem legendären chinesischen Kaiser Fu Xi, der mythologisch ebenfalls einen Schlangenleib hatte.
Raimondin von Lusignan begegnete der schönen Melusine und verliebte sich unsterblich in die mythische Frau. Durch die Heirat erlangte die Familie viel Glück und Reichtum, doch musste Raimondin seiner Braut versprechen, sie niemals an einem Samstag zu betrachten. Natürlich konnte er dennoch nicht widerstehen und so verließ Melusine ihren Gemahl und mit ihr das Glück.
Die Sagengestalt der Melusine geht in Europa auf das 12. Jahrhundert zurück, doch die später so bezeichnete zweischwänzige Meerjungfrau finden wir bereits im antiken Griechenland, den Etruskern und Römern. Auch in Westafrika wurden Mutter-, Meeres- und Flussgöttinnen in Gestalt doppelschwänziger Nixen verehrt. Mit den Sklaven kam das mythische Bild auch nach Amerika und findet sich heute hier z.B. auch in Brasilien.
Schon die in der Legende verschmelzende Schlangensymbolik verweist
auf die durch die Melusine vertretene Urkraft der Erde. Die beiden
gespreizt gehaltenen Fischschwänze können gut als Gebärstellung
verstanden werden. Im Engadin werden Melusinen daher mit Reichtum und
Kindersegen in Verbindung gebracht. Zudem tritt die Melusine als
Seelengeleiterin auf, die die Verstorbenen durch den Jenseitsfluss der
Wiedergeburt zuführt. So wird auch verständlich, dass Melusinen oft in
Bildern des Heiligen Christopherus auftauchen, der ebenfalls im
Christlichen einen Psychopompos (Seelenführer) darstellt.
In der
christlichen Symbolik steht die Melusine mit den gespreizten
Fischschwänzen zunächst für die sexuelle Verführung. Ihr Auftreten an
Kirchenportalen soll Warnung sein, sich von der „dämonischen Macht der
Sexualität" nicht die Sinne rauben zu lassen. Doch durch die starke
genealogische und heraldische Einbindung vieler Adelsfamilien fand auch
hier letztlich eine Umwertung statt. Zunehmend wurde die Melusine als
Urmutter und Urbarmacherin verstanden, die dem Adelsgeschlecht – oder
einer Stadt – ihren Reichtum verlieh. Insbesondere an Innstädten (wie
allgemein einer an einem Fluss gelegenen Stadt) taucht das mythische
Wesen gehäuft auf und vertritt hier den Geist des Flusses als Genius
loci.
Melusine: Symbol der Urkraft der Erde und des Wassers, der Fruchtbarkeit, des Reichtums, der sexuellen Verführung und der Seelenwege.
Foto Melusine © Stefan Brönnle: Portal Stiftskirche Altötting
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