Der Mensch ist mit seiner Wahrnehmung, ja seinem ganzen Wesen aufs engste mit den ihn umgebenden Orten verflochten. Betrachten wir zunächst unser Selbstbild: Das Gehirn zeichnet eine Landkarte von unserem Körper. Die „Kartierung” der Körperteile wird jedoch von unterschiedlichen Gehirnzellen anfertigt - in der einen Woche von diesen, in der anderen von jenen. Ebenso kartiert das Gehirn auch eine Landkarte des Körpers in Beziehung zu seinem Ort. Dies hat zur Folge, dass wir den Ort stets in Beziehung zu unserem Körper wahrnehmen! Der ganze Körper mit Gelenken und allen Gliedmaßen ist als zusätzliches Sinnesorgan aktiv beteiligt an der Wahrnehmung des uns Umgebenden.
Schon in der Antike praktizierte man die heute noch genutzte Mnemotechnik/ Loci- Methode (von Iat. locus: Ort): In der Imagination stellt man sich einen Grundriss eines vertrauten Gebäudes, einer Straße o.a. vor. An jedem Ort, jedem Zimmer, wird nun ein „Gegenstand” platziert. Dieser „Gegenstand” ist z.B. ein Besprechungspunkt, ein Sachdetail oder eine Aufzählung. Man platziert dabei jeden Begriff, an den man sich erinnern möchte, an einem spezifischen Ort in dieser Szenerie. Um die Begriffe abzurufen, geht man mental durch die Szenerie. Flüchtige Gedankeninhalte werden so nachhaltig abrufbar. Der bekannte Ort dient als erfahrener Gedächtnisspeicher.
Der Philosoph Edward Casey spricht von Orten, die „Sammlungstendenzen" haben. Der Ort „hütet Erinnerungen" für einen Menschen und gibt sie frei, wenn die Person anwesend ist. Die Erinnerungen gehören folglich dem Körper, dem Gehirn, aber genauso dem Ort an.
Die alten Völker lebten mit dem Land. Ihre Mythen. Ihre religiösen, sozialen und moralischen Vorstellungen waren verankert an verschiedenen Orten. Ihr Gedächtnis war mit dem Land auf das Engste verwoben. Jeder See, Stein, Berg, Quelle, Fluss, Wald, erinnerte. Diese Kultur der „sprechenden Landschaft" war ein wesentlicher sozialer Aspekt und konnte nicht abgetrennt werden. Zugleich sprechen die Mythen und Legenden der Orte zwei Sprachen: Sie weisen den Weg, der zu gehen ist, sowie den äußeren Weg.
Nach der Vertreibung der Aborigines aus ihrer Landschaft erlitten sie eine kulturelle Amnesie, da die Landschaft wie der Gedächtnisspeicher ihres Stammes war. Der amerikanische Anthropologe Eugen Walter beobachtete, „dass der Ort die Erfahrungen des Menschen an sich bindet".
Im Zusammenspiel zwischen den physischen Platz, dem Bewusstsein und dem Körper des Wahrnehmenden einerseits und der Prägung durch die jeweilige Kultur andererseits entsteht das, was als Heiliger Ort bezeichnet wird.
Ort und Mensch sind sozusagen körperlich verwoben.
Text © Sibylle Krähenbühl
Bild oben © fotolia
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