Der Mensch erlebte die Erde als Leben spendendes und Leben nehmendes allgegenwärtiges Wesen, als weibliche Schöpferin, da ihr – wie den Frauen – die Gabe des Gebärens zu Eigen ist. Sie war die Urmutter aller Geschöpfe, der Tiere, Pflanzen und Menschen. Alle Flüsse, Meere, Berge, den Regen, die Stürme und Jahreszeiten brachte sie hervor. Ihr himmlischer Leib war mit Sternen übersät; hier zogen Mond und Sonne ihre Bahnen. Und wie in ihrem Schoß alles Leben entstand und aus ihrem Inneren alles Leben geboren wurde, so gewährten Höhlen umgekehrt den Zugang in den Bauch der Erde. In ihrem Inneren, das (später) in Form der Unterwelt als Gegenpol zur himmlischen Oberwelt erfahren wurde, sind alle Geschöpfe zu Hause. Die Erde ist die Hüterin aller Dinge. Im Sumerischen bedeutet das Wort „matu“ heilige Höhle, Grab, Unterwelt und Schoß. Im Sanskrit gibt es ebenso nur ein Wort für „Heiligtum“ und „Schoß“.
Alles war beseelt; unzählige Erscheinungsformen ihrer Kinder bevölkerten das Land. So wurde jeder Berg, jeder Fluss, jeder Stein als Geistwesen begriffen, mit dem es in Harmonie zu leben galt. Achtsamkeit und Rituale waren wichtige Begleiter, um als Mensch in guter Weise in dieser Welt zu leben. Alte Bräuche zeugen davon, dass Höhlen, Bäume, Steine, Quellen und Berge die ersten Heiligtümer waren, denen man teilweise bis heute (unter der christlich missionierten Schicht) die Ehre erweist. Heute lenken wir in Europa die Aufmerksamkeit (fast) nur auf die Beurteilung der Materie, die Gegenstände, doch in großen Teilen Afrikas, Indiens, Asiens und in Süd- und Mittelamerika gehört der tägliche Umgang mit Mutter Erde, den Familienahnen und den vielen Geistwesen des Landes zum spirituellen Alltag. So gibt es unzählige Bräuche, die die Errichtung des Hauses, seine Reinigung und seine Segnung betreffen. Meist stehen sie in einer strengen kulturellen Tradition.
Was bei uns durch die Alleinherrschaft der Naturwissenschaften verloren ging, wurde über anthropologische Studien schamanisch orientierter Gemeinschaften wiederentdeckt. Es fanden sich Ähnlichkeiten in den Ritualen, sodass bei uns der Sinnzusammenhang von tradierten, zu äußerlichen Handlungen verkommenen Ritualen neu erklärt werden konnte. Aus dem indischen und fernöstlichen Raum kamen Räucherstäbchen, Ahnenaltäre und Götterkulte, aus den indigenen Traditionen Amerikas die starke Verehrung des weiblich-schöpferischen Prinzips, der „Pacha Mama“ (Bolivien), in unser Bewusstsein zurück. Mit dem Siegeszug des chinesischen Feng-Shui nach Westen hin verbreitete sich die Lehre des Qi, der alles durchdringenden Lebenskraft. Doch die wirkliche Befruchtung fand nicht in der unreflektierten Übernahme anderer kultureller Traditionen statt. Der Blick auf fremde Kulturen gab jedoch den Impuls, der dazu führte, wieder verstärkt nach den eigenen Wurzeln zu forschen und das Wissen unserer Ahnen und Ahninnen, die heiligen Pflanzen, Orte und Landschaften wiederzuentdecken.
Text: Sibylle Krähenbühl
Bild © Konstanze Gruber fotolia
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