Die Kunst der geomantischen Landschaftsinterpretation formierte sich im 4. Jahrhundert nach Christus unter der Bezeichnung Xiang Di („die Erde interpretieren“) zur eigenständigen Wissenschaft, die wir heute unter der Bezeichnung Feng Shui („Wind und Wasser“) kennen. Das Qi kann im Feng Shui als der zentrale philosophische Begriff der Lehre gesehen werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wenn ein Geomant Qi erkennen kann, versteht er Feng Shui“.
In China nahm man an, dass Qi zwar die gesamte Schöpfung erfülle, ja die Voraussetzung dieser sei, denn es entsteht durch den Zerfall in die Polaritäten Yin und Yang, andererseits jedoch die Tendenz hätte, sich an bestimmten Orten zu verdichten. Im Körper entsprächen diese Verdichtungszonen den Dantiens (vergleichbar den indischen Chakren), in der Landschaft den „Drachennestern“ oder schlicht Xue (wobei Xue sowohl Akupunkturpunkt als auch geomantisches Zentrum sein kann).
Das Qi in der topographischen Interpretation
Durch das topographieabhängige „Flussverhalten“ des Qi wurde eine gezielte Landschaftsinterpretation möglich. Sie war die Basis der im 9. Jahrhundert n.Chr. durch Yang Yun-Sung entwickelten Formen-Kraft-Schule (besser bekannt unter dem Kürzel „Formenschule“). Ausgehend von wenigen Grundregeln konnten „Drachennester“ in der Landschaft leicht gefunden werden:
A Wo die Aufmerksamkeit hingeht, geht das Qi hin.
B Das Qi folgt der Bewegung und die Bewegung dem Qi.
C Wasser und Qi binden sich wechselseitig.
D Topographie ist der Ausdruck des inneren Qi-Potentials der Erde.
E Wo Yin und Yang nahe beieinanderliegen, besteht ein starkes Spannungspotential (= Qi).
Aufgrund dieser wenigen Grundregeln entwickelte sich eine Fülle von Methoden und Techniken zur Qi-Interpretation in der Landschaft: So zeigen Wälder und Berge Qi-Fülle an, Wüsten und Ebenen dagegen Qi-Mangel (Regel D); der Lauf von Wasser wurde detailliert analysiert (Regel C) und führte zum „Klassiker über die Wasserdrachen“; die Geomantie-Meister (Xienshang) interpretierten Tierfährten oder ließen Menschen willkürlich mehrfach Hügel hinablaufen, um zu sehen, wo sich ihre Bahnen kreuzten (Regel B); sie ließen ihren Blick schweifen und achteten darauf, wo er verweilte (Regel A); schließlich wurden unterschiedliche Landschaftsqualitäten in Beziehung gesetzt, wie z.B. ein höherer und ein niedrigerer Bergrücken. Wir kennen solche Formationen heute als „Drachen-Tiger“-Formationen. Das Xue lag hier im Spannungsfeld zwischen „Drachen“ (Yang) und „Tiger“ (Yin) (Regel E), dort, wo sich die Geschlechtsteile der Tiere befinden – Ort des Schöpfungsaktes und Tor für den im Daoismus angestrebten „Zustand des frühen Himmels“….
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