Eine wunderbare symbolische Darstellung der Ortsqualität auf einem Säulenkapitell des Baseler Münsters: Zwei Wesen mit Vogelkörpern und Drachenkopf – vermutlich eine Anspielung auf die Stadtsage des Baseler Basilisken - dringen durch die Ohren in den Körper ein, werden aus dem Mund ausgeatmet, um in die Erdentiefe abzusinken und sodann bis zu den Geschlechtsteilen wieder aufzusteigen.
Zur Deutung:
Das Ohr gilt als eine Analogie auf das ganze menschliche Wesen. Nicht umsonst wird in der Akupunktur das Ohr als ein Holon des Körpers verstanden. Im christlichen Kontext meint das Ohr den seelenhaften Leib: “Gaude virgo, mater christi, quae per aurem concepisti” (Freue dich Jungfrau, Mutter Christi, die du mit dem Ohr empfangen hast). Die „Empfängnis durch das Ohr“ (conceptio per aurem) meint ein unmittelbares seelenhaftes Aufnehmen. Die Inspiration, die „Einhauchung“ wird unmittelbar ganzseelisch aufgenommen. So auch in diesem Säulenkapitell: Die Ortskraft, symbolisch durch zwei basiliskenartige Tiere, dringt unmittelbar in den Menschen ein und inspiriert ihn.
Sodann wird der von der Ortskraft durchwirkte Mensch zur Tat veranlasst, er „atmet“ die Drachengestalten wieder aus. Ähnlich der göttlichen Einhauchung des Odems in Adam, wird hier der Mensch zum Schöpferwesen. Wie Gott dereinst den Odem in den ersten Menschen blies, haucht hier der Mensch die Ortskräfte, von den er inspiriert wurde wieder aus.
Die durch das menschliche Wirken transformierten Kräfte steigen zur Erde hinab, sie werden damit physisch-materiell. Die Schöpferkraft des Menschen materialisiert sich.
Von der Erde schließlich steigen die beiden Drachenköpfe wieder auf. Sie umschlingen die Beine und enden mit ihren aufgesperrten Mäulern direkt im Schoß. Der Ort in seiner Gesamtheit – die ursprüngliche Ortskraft, vom Menschen transformiert und in eine physische Form gebracht – wirkt nun seinerseits auf den Menschen zurück. Der Schoß, die Geschlechtsorgane, sind Symbole der Kreativität. Zugleich wird „gens“, das „Geschlecht“ – einerseits der „Schoß“, andererseits die menschliche Erbschaftslinie – durch die Ortskraft beeinflusst.
So wird in dieser schlichten und zugleich tiefgründigen Darstellung die wechselseitige Befruchtung von Ort und Mensch dargestellt. Das Baseler Münster wird hier zu einer „formgewordenen Ortskraft“ gefasst, die ihrerseits die Menschen des Ortes beeinflusst.
Ein wunderbares Symbol für das Zusammenwirken von Mensch und Erde.
Bild © Stefan Brönnle
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