Vor rund 9000 Jahren – im Mesolithikum (Mittelsteinzeit) – wurde im heutigen Saalekreis bei Bad Dürrenberg eine dreißig bis vierzigjährige Frau bestattet. Die enorme Vielzahl der ihr beigegebenen Tierarten lässt auf eine starke kultische Bedeutung der Person schließen:
Mehr als einhundert Skelettreste von Bibern, Hirschen, Wildschweinen, Wisenten und Rehen, sowie die Panzer von drei Sumpfschildkröten und dem Behälter aus den Langknochen eines Kranichs mit 29 kleinen Feuersteinstücken verweisen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den Animismus der damaligen Zeit. Die Tierskelette müssen als Brücken zu den Tiergeistern, die die Frau begleiteten, gewertet werden. Der Schmuck bestand aus über 20 durchlöcherten Wildschweinschneidezähnen, die wohl eine Kette bildeten. Dies wurde ergänzt durch Schmuckplatten aus Wildschweinhauern und einem Kopfschmuck aus einem Rehbockgeweih. Etwa dreißig Zentimeter hoch, war das Grab mit Rötel gefüllt, einem Material, dem noch heute in manchen Kulturen magische Kraft zugesprochen wird. Vom altenglischen „teafor" für Rötel lässt sich ethymologisch das mittelniederländische „tover“ und von diesem das althochdeutsche „zaubar“ (= Zauber) ableiten.
Das Grab ist eine der ältesten bekannten Bestattungen Mitteldeutschlands und die Grabbeigaben lassen eigentlich keinen anderen Schluss zu, als dass es sich bei der Frau um eine Schamanin gehandelt haben musste. Damit gilt der Schamanismus bis in die Mittelsteinzeit zurück als wissenschaftlich belegt, wenn dies auch zuvor bereits von Religionswissenschaftlern so vermutet wurde.
Anthropologische
Untersuchungen des Frauenskelettes zeigten eine Fehlbildung am
Hinterhaupt. Diese Anomalie am Atlaswirbel konnte bei bestimmten
Kopfbewegungen wie starkem Nicken dazu führen, dass eine Arterie zum
Gehirn abgeklemmt wurde, wodurch es möglicherweise zum sogenannten
Downbeat-Nystagmus kam: Unkontrollierte Augenbewegungen bis hin zur
Ohnmacht. Diesen Zustand können wir auch mit der bekannten
„Schamanenkrankheit“ beschreiben.
Zusätzlich waren die
Schneidezähne des Frauenskelettes künstlich mehrfach abgeschliffen
worden. Möglich ist, dass die dadurch entstehenden Schmerzen
ebenfalls initiatorischen Charakter hatten.
Das Grab, das bereits 1934 entdeckt wurde, wurde ab 2019 noch einmal gründlich nachuntersucht, wobei bis heute neue Erkenntnisse gewonnen werden. Die „Schamanin von Bad Dürrenberg“ wurde in leicht sitzender Position bestattet, zwischen ihren Oberschenkeln ein Junge von nicht einmal einem Jahr Alter. Obwohl es nicht ihr Kind war, wie DNA-Analysen zeigten, war es doch mit ihr verwandt, was aber im Anbetracht der damaligen Clanstrukturen nicht ungewöhnlich wäre.
Die „Schamanin von Bad Dürrenberg“, die weltweit älteste bekannte Schamanin!
Wenn es dies noch zu übertreffen gilt, dann wohl mit folgender Tatsache: Unmittelbar vor dem Grab der Schamanin, sozusagen in ihrer Blickrichtung, wurde eine weitere Grube entdeckt. Diese diente der Niederlegung von zwei aus mächtigen Hirschgeweihen hergestellten Masken. Diese „Ehrenbezeugung“ jedoch erfolgte rund SECHSHUNDER Jahre nach der Bestattung der Schamanin! Über 600 Jahre war – ohne Schrift – offenbar der Bestattungsort und die Macht der hier bestatteten Person tradiert worden. Wir können dies als eine sehr frühe Art einer Art „Heiligenverehrung“ deuten.
Die Ursache für diese nachträglichen „Votivgaben“ vermutet Landesarchäologe Harald Meller in einem sich zu dieser Zeit verschlechternden Klima. Die jährliche Durchschnittstemperatur sank innerhalb weniger Jahre um zwei bis drei Grad. „Denkbar ist, dass man das Grab der Schamanin in dieser Situation in der Hoffnung auf Hilfe aufsuchte und die Masken deponierte“, vermutet Harald Meller.
Die „Schamanin von Bad Dürrenberg“, die heute mit ihren Grabbeigaben im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle zu bewundern ist, ist ein Meilenstein im Verständnis des europäischen Schamanismus!
Copyright beider Bilder: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Karol Schauer – mit freundlicher Genehmigung.
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