Unter dem Eindruck eines Eisregens, der hier gerade die Welt zum Stillstand bringt, wird mein Bewusstsein auf die Symbolik und Kraft des Eises gelenkt: Als dritter Aggregatzustand des Wassers steht das Eis symbolisch für die materielle Ebene (so wie das flüssige Wasser für die Gefühle und das dampfförmige für den Geist steht). Die Symbolik des Eises ist damit verbunden mit der Erstarrung.
Gerade im Märchen
wird das Eis hier zu einem Synonym für Beziehungs- oder
Gefühlskälte. Im Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans
Christian Andersen wird das Eis in diesem Sinne zu einer Verkehrung
des Guten. Es entstammt einem Spiegel, den der Teufel erschuf. Dieser
Spiegel hatte die Eigenschaft „dass alles Gute und Schöne, was
sich darin spiegelte, fast zu Nichts zusammenschwand“. Als
der Spiegel zu Gott getragen wird, zerspringt er. Treffen die Splitter
ein Herz, so wird dieses so kalt wie Eis.
Im Märchen wird der
Junge Kay von der Schneekönigin entführt. Die Kälte ihres Kusses
lässt ihn ihrer kalten Schönheit verfallen. Als er im Frühling
immer noch nicht zurück ist, macht sich seine Schwester Gerda auf
die Suche nach ihm. Mit der Hilfe weiser Frauen findet Gerda
schließlich das Schloss der Schneekönigin, eine Ansammlung
hunderter leerer kalter Eissäle, alle von kaltem Nordlicht erhellt.
Gerda
findet Kay in einer geistigen Gefangenschaft wieder. Gerda weint um
ihn und die heißen Tränen lassen sein Eisherz schmelzen.
Im Sinne dieser Symbolik fordert auch die Botschaft des grönländischen Schamanen Angaangaq „Schmelzt das Eis in euren Herzen!“
Fast wie die Schneekönigin wirkt auch im japanischen Volksglauben die Schneefrau Yuki-onna. Sie wird als zierliche Frau beschrieben, mit schneeweißer Haut und ebensolchen Haaren und bekleidet mit einem schneeweißen Kimono. Doch kaltherzig ist sie nicht zwingend, eher ambivalent: Sie warnt Wanderer vor aufkommenden Schneestürmen, aber lockt sie auch in diese. In einer ihrer Legenden begegnet sie einem Meister und seinem Diener. Sie tötet den Meister mit einem eiskalten Atem, lässt aber den Diener unter der Bedingung am Leben, dass er niemandem von ihr erzählen dürfe. Später erscheint sie wieder in Gestalt der schönen Yuki, heiratet den Diener und gebiert ihm 10 Kinder mit außergewöhnlich weißer Haut. Doch als sich der Mann dazu hinreißen lässt, seine Frau mit der Schneefrau zu vergleichen, verlässt sie ihn, weil er das Geheimnis preisgegeben hat. So ist die Schneefrau Yuki-onna ein Symbol des Okkulten, des Geheimnisses, das sich in der erstarrten Materie (dem Eis) befindet.
Eis als Metapher der starren Materie ist auch in den nordischen Mythen allgegenwärtig vertreten: Der Schöpfungsmythos der Germanen lässt Eis zu einem der Elemente werden, aus dem die Welt erschaffen wird: Im Urschlund, der Schlucht Ginnungagap treffen die Eismassen aus Niflheim und die Feuerströme aus Muspelheim zusammen und aus diesem brodelnden Dampf wird der Urriese Ymir geboren, das erste Lebewesen. Auch die Ur-Kuh Audhumbla entsteht hier. Tagelang leckt sie Eis bis darunter der erste Gott Buri auftaucht. Er wird der Vater von Odin und seinen Brüdern, die Ymir erschlagen und aus seinem Körper die Welt formen.
Aus Erstarrung (Eis = Materie) und Dynamik (Feuer = Geist) wird die Welt erschaffen. Auch hier birgt das Eis den ersten Gott und trägt damit wie im japanischen Mythos von Yuki-onna ein okkultes Geheimnis. In der Erstarrung verborgen liegt die Schöpferkraft (wie auch Yuki 10 Kinder gebiert). Das Eis erscheint so kalt und grausam wie die physische Welt und doch beherbergt diese verborgen die Urkraft der Schöpfung. Denn Eis (Materie) ist nur der eine Aggregatzustand, der eben auch in Seele (flüssiges Wasser) und Geist (Dampf) überführt werden kann. Diese beiden letzten sind gleichsam in der Erstarrung verborgen.
So zeigt das Geheimnis des Eises, dass aus der Erstarrung und Herzenskälte, Leben und Schöpferkraft entspringen kann: Der Vorbote einer neuen Welt!
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