Wir leben in einer Welt, die die essentielle, die wirkliche - also die die Wirkung gebende - Wirklichkeit nicht mehr wahrnimmt. Diese ist nicht die Stofflichkeit, auf die sich unsere Kultur so sehr zu fixieren gelernt hat. Die wirkgebende, also die die Wirklichkeit bildende Kraft wird - wie Platons berühmten Höhlengleichnis - nur durch ihren Schatten wahrgenommen, den sie im Stofflichen wirft.
Dieser Schatten kann unterschiedlich ausgeprägt sein: Es kann der beobachtete Wellen-Teilchen-Dualismus sein, der zwei sich eigentlich widersprechende physikalische Beobachtungen beschreibt und die dahinter befindliche Wirklichkeit verborgen hält. Es kann das sich scheinbar ausdehnende, dann aber auch andernorts sich zusammenziehende Universum sein, das auf die dahinterliegende Wirklichkeit deutet, oder es kann die Gestalt des Universums an sich sein, die mal als Kugel, mal euklidisch und mal hyperbolisch angenommen wird.
Wir müssen uns aber
gar nicht in den Unendlichkeiten des Makro- oder Mikrokosmos
verlieren. Wir alle haben die Wirkung des Nichtstofflichen sicher oft
kennengelernt: Vielleicht war es ein Wechsel der Gefühle von einer
Sekunde auf die andere, eine Veränderung der Stimmung, das
Wahrnehmen einer Ortsatmosphäre, oder andere Erfahrungen, die
einfach Stofflich nicht zu greifen waren.
Wir können es
stofflich nicht greifen, weil die Ursache im Nichtstofflichen liegt.
Leben können wir in der Biologie zwar anhand bestimmter Mechanismen
beschreiben, aber wir können es nicht wirklich erklären oder verstehen, denn die
Lebendigkeit liegt - so paradox dies klingen mag - in einer
nichtstofflichen Wirklichkeit, einer "Substanz" (wörtlich "darunter
stehen") der Materie. So sehr sich die Biologie auch müht,
chemische Verbindungen bereitzustellen, es entsteht daraus einfach
kein Leben! Ebenso, dieser Seitenhieb sei mir verziehen (!), werden
wir Gesundheit, das Heilsein, nicht durch die Betrachtung eines Krankheitserregers
wirklich begreifen und schon gar nicht durch die versuchte
Eliminierung eben jenes Erregers erschaffen können. Leben (und auch
Gesundheit) sind eben deutlich mehr als biologisch beschreibbare
Funktionen wie Atmung und Stoffwechsel, mehr als die berühmten 5
Merkmale, die Leben definieren (Bewegung aus eigener Kraft, Wachstum,
Stoffwechsel, Reizbarkeit, Fortpflanzung und der Aufbau aus Zellen).
In unserer Versenkung in den Schatten wenden wir uns gerade von jener
Wirklichkeit ab, die den Schatten wirft.
Umso mehr werden
jene, die den Schatten als Abdruck erahnen und darüber auf eine
höhere Wirklichkeit (eine Nichtalltägliche Wirklichkeit)
rückschließen, von den anderen belächelt, verspottet und auch
bisweilen bekämpft.
In der Geomantie ist jenes Ur- und
Lebenskraftprinzip, das das Universum durchwirkt, als der Drache
bekannt. Laotse formulierte einst im Taoteking: "Der Begriff,
durch den man begreifen kann, zeugt nicht vom Unbegreiflichen".
Er wollte über etwas Numinoses und zugleich Grundsätzliches reden,
das im Kern nicht fassbar ist. Doch um darüber schreiben zu können,
brauchte er einen Begriff. Er wählte das Dao (Tao), was "Der
Weg" bedeutet, doch stellte er rasch mit eben diesem Satz klar,
dass "Der Weg" kein physischer Weg ist. Eben jener Begriff,
durch den man begreifen kann, ist kein Weg, obwohl der Begriff das
suggeriert. In diesem Sinne ist auch der der Materie innewohnende
Drache kein Drache. Jedenfalls nicht in jenem Sinne eines Untiers,
das bekämpft werden muss. Vielmehr steht dieses Symbol für das
Bewusstsein der Urkraft selbst. Und dennoch ist unser menschliches
Bewusstsein so gestaltet, dass es in Kontakt mit eben jener Urkraft
häufig Bilder von Drachen erzeugt, um ein "Bild zu haben, durch
das man imaginieren kann".
Der Drache ist zugleich Symbol und wesenhaftes Bewusstsein, eine Metapher und dennoch substanzielle Wirklichkeit. Wenn wir das Bild (und den Begriff) in geomantischen Phänomenen wie Drachenlinien, Drachenwegen, Drachenadern (Longmei), Drachennestern, in Berg- und Wasserdrachen u.v.m. nutzen, dann deshalb, weil diese eben der Urkraftebene der Erde, ja dem Leben selbst in seiner wesenhaftesten Form, so nahe stehen, obgleich auch sie letztlich nur Schatten des Drachens sind. Den Drachen in sich zu finden, bedeutet demnach auch jene Kraft in sich zu entdecken, die eben auf einer höheren Wirklichkeit zugleich ursächlich für uns und unser Leben auf der Erde ist. Diese Wirklichkeitsebene zu negieren, ja sogar zu bekämpfen, entspricht dem Wesen unserer Kultur, die in unzähligen "Drachenkämpfen" mit der Urkraftebene der Erde, ja des Kosmos, im Zwist liegt. Der eigentliche Kampf ist darum eine Bewusstseinsschlacht: Wobei die eine Seite den Blick auf den Schatten fixiert halten will, während die andere dem Drachen selbst in Antlitz schauen möchte. Irrwitzigerweise wird eben letzteres von der ersten Partei als illusionär und fiktional angesehen, als Einbildung. Und in der Tat, solange man Gefühle zur Einbildung deklariert, solange man der nichtrationalen Wahrnehmung mit Missachtung begegnet, solange wird der Drache nur ein Fantasiegebilde bleiben und selbst der Schatten nur die Wirkung einer vorüberziehenden Wolke.
Insofern geschieht gerade in dieser Schwellenzeit soviel mehr als nur ein politischer Konflikt: Es ist das kollektive Erahnen, dass Realität nicht nur eine Wahrheit kennt, dass Wirklichkeit vielschichtig ist und dass das Eliminieren ganzer Schichten aus dieser zum Tod des ganzen Systems führen kann. Man kann den Drachen als "Fantasiegebilde" nicht aus der Materie extrahieren, ohne dass nurmehr eine seelenlose Hülle derselben übrig bleibt. Die Befreiung der Drachen beginnt damit, ihre Schatten zu erkennen, doch sie endet dabei lange nicht. Sie wird die Paradigmen des Denkens transformieren.
#freedragon
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