Märchen sind Mythen mit einer tiefen Symbolik. Sie greifen zurück auf kulturelle seelische Erfahrungsschätze. Viele dieser Seelenerfahrungen reichen dabei weit in die grundlegende Beziehung von Erde und Mensch hinein. In dieser Reihe wollen wir dem geomantischen Gehalt einiger Märchen nachspüren.
Wer das Märchen nicht kennt und noch einmal lesen möchte, findet es HIER
Der süße Brei ist ein in seiner Handlung sehr schlichtes und kurzes Märchen: Ein armes Mädchen hat nichts zu essen. In seinem Jammer geht es in den Wald, wo ihm eine alte Frau begegnet. Diese schenkt dem Kind einen magischen Topf. Wenn man sagt „Töpfchen koche", so kocht es guten süßen Hirsebrei, und wenn man sagte „Töpfchen steh", so hörte es wieder auf zu kochen. Der Hunger ist damit besiegt.
In der Abwesenheit des Kindes bringt die Mutter den Topf zum kochen, weiß aber die Beendigungsformel nicht mehr und so kochte der Brei über, bis er die ganze Stadt erfüllte, bis das Mädchen heimkommt und den Spuk beendet.
So schlicht dieses Märchen ist, so sehr nährt es sich doch aus unseren Mythen. Wir erkennen in der alten Frau unschwer die Magna Mater, die Große Mutter wieder, die das Leben und die Fruchtbarkeit schenkt. Von ihr wird das Mädchen in die rituelle Handhabung eines Gefäßes eingeweiht. Wie der Heilige Gral in Wolfram von Eschenbachs Parzival die köstlichsten Speisen hervorzubringen vermag und wie das antike Füllhorn Nahrung im Überfluss spendet, so auch dieser Topf. Damit zeigt sich der Topf als das Gefäß der Großen Göttin, dass die Fruchtbarkeit und Nahrung spendet. Die Handhabung ist denkbar einfach und doch wird sie alsbald von den Menschen vergessen.
Dem Gefäß – der Natur – wird Nahrung im Überfluss abgerungen, viel mehr, als wir überhaupt essen können: ...und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll, und das zweite Haus und dann die Straße, als wollts die ganze Welt satt machen...." Erkennen wir darin nicht unseren augenblicklichen Zustand wieder, in dem Nahrung im Überfluss produziert wird, so viel, dass wir die ganze Welt satt machen könnten und dennoch ersticken wir an ihrer Fülle, an der Überproduktion, die die Märkte Afrikas zerstört und unter großem Energieaufwand zerstört werden muss? Haben nicht auch wir das schlichte rituelle Beenden verlernt? Den Dank an die Natur, das Loslassen, der den bösen Spuk beenden würde? Und so kocht unser Überfluss weiter und weiter, bis wir daran zu ersticken drohen. Wir haben es zwar vermocht die Ernten in immer schwindelerregendere Höhen zu treiben, haben aber vergessen, was der Sinn dessen ist. Der Profit steht über der Sättigung und so wird das ewige Wachstum zu einem Monster, dass den Reichtum kollabieren lässt – für viele schon heute, für manche erst morgen.
Es bedürfte nur des schlichten „Töpfchen steh", um die Gefahr zu beenden, doch wir haben vergessen, was es außer Wachstum noch geben könnte in dieser Welt. Wir können uns nicht mehr vorstellen, ohne Wachstum zu leben und sterben daher genau daran. Das Geschenk der Großen Göttin, die Lebenskraft, wächst bis zum Burnout. „Töpfchen steh" ist so schlicht, dass offenbar nur ein Kind dies auszusprechen vermag. Setzt Dich! Werde still! Hör auf, zu wirken und zu wachsen! Jede Sattheit braucht die Verdauung, jedes Nehmen ein Loslassen und Geben, jedes Bitte einen Dank.
So hält uns der Süße Brei in seiner Schlichtheit einen Spiegel vor und birgt in seiner oberflächlichen Naivität ein tiefes Wissen.
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Bild © letty17/istock
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