Bereits vor 4000 Jahren erzählt der Gilgamesch Epos vom Wilden Mann. Enkidu ist sein Name. Enkidu wurde von der Muttergöttin Aruru aus Lehm erschaffen. Zu zwei Dritteln ist Enkidu Mensch und zu einem Drittel Gott. Zunächst lebte Enkidu völlig nackt und stark behaart mit den Gazellen der Steppe. Er aß wie sie Gras und schützte sie, bis die Tempeldienerin Schamchat ihn verführte, um ihn so der Natur zu entfremden.
Im Alten Testament wird aus Enkidu Esau (hebräisch עֵשָׂו Esaw = „behaart"). Esau wird beschrieben als „rötlich, am ganzen Leib wie ein härener Mantel" (1. Mose 25,26). Als Zwillingsbruder des Jakob und eigentlich Erstgeborener, verkörpert Esau den „Wildmenschen", jene Ebene im Menschen, die noch ganz Natur ist.
Im Mittellateinischen wurden diese Wildmenschen silvani, also „Waldbewohner" genannt. Der Wilde Mann (seltener auch die Wildfrau) taucht ab dem 14. Jahrhundert in der christlichen Kunst auf. Als materielle Gestalten stehen sie dennoch den Naturgeistern nahe. Im Brauchtum als Gestalten in Fell- und Blätter/Gras-Kostümen auftretend wirken sie beinahe wie Schamanen, die sich ebenso in Felle hüllen, um mit den Spirits, den Geistern der Tiere und Pflanzen, in Kontakt zu treten. Beinahe wie ein Kraftobjekt wirkt dabei ein langer Stab oder eine Keule, mit der sie häufig abgebildet werden. Wie der Schamane den rituellen Weltenbaum als mikrokosmisches Abbild, führt der Wilde Mann diesen oft noch grünenden Stab mit sich. So verkörpert der Wilde Mann jene Bewusstseinsebene im Menschen, die noch befähigt ist mit den Geistern der Natur zu kommunizieren und entlang der axis mundi, der Weltensäule oder dem Weltenbaum, sein Bewusstsein zu bewegen.
Auch Goethe lässt den Wilden Mann in Faust II gemeinsam mit Faunen und Satyrn auftreten:
Die wilden Männer sind s' genannt,
Am Harzgebirge wohlbekannt;
Natürlich nackt in aller Kraft,
Sie kommen sämtlich riesenhaft.
Den Fichtenstamm in rechter Hand
Und um den Leib ein wulstig Band,
Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt,
Leibwacht, wie der Papst nicht hat.
Der Fichtenstamm, den Goethe beschreibt, ist bei den Schamanen der Yakuten eng mit dem Schamanentum verwoben. Die Yakuten glauben, dass die Schamanen auf Fichten geboren werden und in den Nestern in seinem Geäst aufwachsen.
So stellt der Wilde Mann eine deutliche Schnittstelle zwischen Kultur- und Naturbewusstsein des Menschen dar, sowie dessen Fähigkeit mit dem Bewusstsein der Natur eins zu bleiben und den umgebenden Naturgeistern zu kommunizieren.
Bild © Stefan Brönnle
Wappen von 1589 mit Wildem Mann
Kommentare