Die Schamanische Zerstückelung ist ein wichtiges transformatives Erlebnis der spirituellen Trancearbeit. In vielen schamanischen Kulturen ist das Erleben der eigenen Zerstückelung geradezu Grundvoraussetzung, um ein Schamane werden zu können. Bei diesem Ereignis erlebt man mit, wie der eigene Körper zerstückelt, zerteilt und anschließend wieder zusammengesetzt wird. Da diesem transformativen Akt sehr oft mit Angst begegnet wird, lohnt sich ein Blick auf dieses wichtige Ereignis.
In der psychologischen Deutung wird die Schamanische Zerstückelung meist als der Tod des Egos interpretiert. M.E. jedoch reicht eine solche banale Etikettierung nicht aus, um dem Ereignis gerecht zu werden. Ich selbst durfte vor Jahren an einer tibetischen Zeremonie teilnehmen, die ein Lama speziell für uns abhielt: Während er in seinem tief-sonorem Gesang Mantren von sich gab und gelegentlich auf einer aus einem menschlichen Oberschenkelknochen gefertigten Tröte blies, kamen – so auch die Erklärung vorab – die Dakinis, sägten mir den Schädel auf, holten das Gehirn heraus, zerteilten es, wuschen es, setzten es wieder ein und legten die Schädelplatte wieder auf. Dabei kam es – zumindest bei mir - nicht zum Tod des Egos, aber zu einer tiefgreifenden ganzleiblichen Transformation.
Dakini, der Sanskrit-Begriff ist mit dem Begriff des Trommelns verwandt und bildet schon sprachlich eine deutliche Beziehung zu den schamanischen Wurzeln des tibetischen Buddhismus. Diese „Himmelsläufer", so die wörtliche tibetische Übersetzung, sind im Vajrayana-Buddhismus göttliche Wesen, die auch die Göttin Kali in Indien begleiten, um sich von Menschenfleisch zu ernähren.
Eine solche Vorstellung erscheint zunächst furchteinflößend, weshalb der Schamanische Zerstückelung oft mit Ablehnung begegnet wird. Doch der interkulturelle Vergleich zeigt, dass das Erleben an sich interkulturell ist. Oft geschieht die Zerstückelung in Verbindung mit dem Eintauchen in einen – manchmal blutgefüllten – Kessel. Auf dem Silberkessel von Gundestrop, der den Kelten zuzuordnen ist, sieht man die Darstellung einer Figur, die Krieger kopfüber in einen Kessel taucht, aus dem diese anschließend erneuert hervorgehen. Die erneuernde Kraft dieses transformativen Kessels muss als eine Grundsymbolik der Gralslegende verstanden werden. Im Grimmschen Märchen „Fitchers Vogel" raubt ein Hexenmeister eine Frau, gibt ihr ein Ei und den Schlüssel für die Räume seines Hauses mit dem Verbot eine Kammer auf keinen Fall zu betreten. Sie tut es dennoch, sieht dort drin ein großes blutiges Becken mit Körperteilen, verliert ihr Ei und wird daraufhin selbst zerstückelt. Darauf wird ihre Schwester geraubt, der das gleiche geschieht. Erst die dritte Schwester ändert das Schicksal: „Als er ihr Schlüssel und Ei gegeben hatte und fortgereist war, verwahrte sie das Ei erst sorgfältig, dann besah sie das Haus und ging zuletzt in die verbotene Kammer. Ach, was erblickte sie! ihre beiden lieben Schwestern lagen, jämmerlich ermordet, in dem Becken. Aber sie hub an und suchte die Glieder zusammen und legte sie zurecht, Kopf, Leib, Arm und Beine. Und als nichts mehr fehlte, da fingen die Glieder an sich zu regen und schlossen sich aneinander: und beide Mädchen öffneten die Augen und waren wieder lebendig. "
Das Motiv des Blutkessels verschmilzt in diesem Märchen eindeutig mit dem Erlebnis der schamanischen Zerstückelung.
Auch der jugendliche Heilige Vitus (St. Veit), der im Kessel sitzend abgebildet wird, gibt m.E. ebenso das Ereignis der Zerstückelung und Wiedererneuerung wieder, wie die Zerstückelung, die im Mythos dem Heiligen Emeram wiederfahren ist. Auf eine Leiter gebunden – in der die Himmelsleiter als Variante der axis mundi erkennbar wird und die somit eine Varianz des Weltenbaums darstellt – wird Emeram zerteilt.
Es handelt sich also offenbar bei der Schamanischen Zerstückelung um ein interkulturelles Phänomen, dessen Erleben jenseits religiöser Vorstellungen angesiedelt ist. Um nun aber den transformativen Akt zu verstehen, der hinter diesem archaischen Erlebnis steckt, müssen wir uns zuvor bewusst werden, dass die Vorstellungen der Seele in anderen Kulturen durchaus deutlich von der heutigen christlichen Vorstellung abweichen: Im alten Ägypten wurde dem Menschen drei Seelen – Ka, Ba und Ach – zugesprochen. In China gab es das Konzept von P'O und Hun, der Yin- und der Yang-Seele des Menschen und Paracelsus spricht im Liber de Lunaticis vom Elementar- und dem Gestirnsleib als nur zwei Aspekten der menschlichen Seele. Ohne dies hier nun weiter vertiefen zu wollen, kommen wir nicht umhin, die Seele als aus den verschiedensten Aspekten oder Anteilen bestehend anzusehen. Nur so kann auch die Schamanische Seelenrückholung verstanden werden. Dabei ist die genaue Zahl der Seelenanteile unerheblich. Wichtig ist, dass sich Fragmente durch traumatische Erlebnise lösen können, oder umgekehrt, wir Seelenanteile aus der Ahnenlinie, aber auch traumatischen aktuellen Beziehungen in uns mitzutragen imstande sind.
Bei der Schamanische Zerstückelung wird nun im Symbol der physischen Zerstückelung ein spiritueller Prozess erlebbar: Die verschiedensten Seelenanteile werden von einander gelöst und die Seele als ganzheitlicher Leib neu zusammengefügt. Durch diesen transformativen spirituellen „Großputz" können hemmende spirituelle Blockaden beseitigt, Erkenntnisse vorangetrieben und (oft chronische) Krankheiten geheilt werden.
Die Schamanische Zerstückelung ist daher eher ein Akt der spirituellen Wiedergeburt als des Egotodes; Eine grundlegende und tiefgehende Erneuerung der menschlichen Seele.
Bild oben: Göttin Kali umgeben von Körperteilen – gemeinfrei (verändert)
Bild St. Emeram © Stefan Brönnle
Bild Seelenanteile © sezer66/fotolia.com
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