Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt -
als wär's ein Heiligtum.
Christian Morgenstern
Das Knie hat in der Tat eine bedeutungsvolle, wenngleich oft verborgene Bedeutung. In zahlreichen Trancehaltungen nach Felicitas Goodman, die von historischen Figurinen abgeleitet sind, wird das Knie mit einer Hand oder beiden umschlossen oder berührt; so z.B. beim „Paar von Cernavoda", der „Dame von Cholula", dem „olmekischen Weissager", der „Dame von Baza" u.v.m. Offensichtlich hatte das Knie in der Symbolik eine tiefe Bedeutung, sonst würde es nicht in rituellen Körperhaltungen abgebildet. Selbst in zahlreichen christlichen Abbildungen – insbesondere der Madonna mit Kind – wird das Knie berührt.
Das Wort „Knie", althochdeutsch „kneo", leitet sich ab vom indogermanischen Grundwort „genu". Bereits hier kommt es zu einer engen Beziehung zur indogermanischen Wurzel gen(u), was >gebären, erzeugen, erkennen< bedeutet – unser Wort „Kind" ist von dieser Wurzel abgeleitet. Auch im Lateinischen ist dieser Gleichklang präsent: gens bedeutet „Geschlecht", „Sippe", „Abkömmling" oder „Sprössling", während genu das Knie benennt. Das Knie und das Geschlecht, also die vorangegangenen und kommenden Ahnen (siehe „Kind") sind symbol-mythologisch miteinander verknüpft.
In der Tat war es in früheren Zeiten bei uns – und ist es z.T. bei indigenen Völkern bis heute – üblich, in kniender Haltung zu gebären. Zwei archaische romanische Darstellung auf dem Dach der Kirche von Rosheim (Elsaß) zeigen eine solche Gebärhaltung auf eindrückliche Weise: Eine Löwin stützt dabei die Figuren von hinten und verbindet diese dadurch mit der Macht der Großen Göttin. Die Gestik kann sowohl als Gebärhaltung, also als schöpferischer Akt, als auch als Trancehaltung verstanden werden. Die Figuren umschließen dabei mit ihren Händen ihre Knie.
Im vorchristlichen Europa war es rituelle Praxis, dass ein Vater sein Kind dadurch anerkannte, dass er das Neugeborene auf sein Knie setzte. Nun war das Kind (gen) durch seine Geburt (gen) mit der Ahnenlinie (gens) verbunden. Auch beim Knicks der höfischen Gesellschaft, also das Beugen des Knies, handelte es sich zunächst um eine rituelle Geste der Einbindung in die Ahnenlinie, die Demutssymbolik übernimmt erst später die Deutungsdominanz. Insofern ist das Knie ein symbolisches „Beziehungsorgan", das die Beziehung einer Person zur Ahnenlinie, oder der Erde als Ganzes („Menschheitsgeschlecht") widerspiegelt.
Auch sprachlich ist im Deutschen heute das Knie das einzige Körperteil, von dem unmittelbar ein intransitives Verb ableitbar ist: Knie – knien.
In der rituellen Symbolik ist der Verweis auf das Knie damit stets auch ein Verweis auf die Linie der Ahnen. Wenn eine Madonna thronend ihr Knie umfasst, dann verweist das auf sie als Gottesgebärerin und auf die Ahnenlinie des Hauses Davids; ebenso eine Christusfigur auf ihrem Schoß. Manchmal berühren die Figuren sogar gleichzeitig ihre Knie wie im Apsismosaik der Hagia Sophia in Istanbul: Christus und Gottesmutter stehen in Beziehung zur Ahnenlinie.
Wenn in Trancehaltungen somit das Knie umfasst oder berührt wird, so bringt diese rituelle Körpergestik den Wahrnehmenden in Kontakt zur Kraft der Ahnen, baut eine Verbindung zur persönlichen Ahnenlinie oder dem kollektiven Ahnenfeld auf.
In der Psychosomatik wird bei Knieproblemen oberflächlich zunächst von Demuts- und Anpassungsthemen ausgegangen. Eine tiefergehende Beschäftigung bringt aber zumeist Ahnenthemen an die Oberfläche.
Bild Rosheim © Stefan Brönnle
Bild Apsismosaik Hagia Sophia Wikipedia
Bild Dama de Baza Wikipedia
Kommentare
Lieber Stefan, danke für den Beitrag, sehr interessant! Das wusste ich noch nicht.
Lg Stefanie