Kultorte entsprechen den mythologischen Weltbildern der Kultur, die sie hervorgebracht haben. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist die „Pyramide der gefiederten Schlange" in Teotihuacan (Mexiko).
Teotihuacan ist eine der bedeutendsten mittelamerikanischen Kultorte. Es gehört seit 1987 zum UNESCO Weltkulturerbe. Zwischen 100 und 650 n.Chr. War die Stadt das dominierende kulturelle, wirtschaftliche und militärische Zentrum Mesoamerikas. Erst später – als die Kultur der Teotihuacanos schon längst zerfallen war – entdeckten die Azteken die Stadt und erkannten in ihr ihre mythologischen Weltbilder wieder. Sie hielten sie daher für den göttlichen Geburtsort ihrer Kultur.
Die Kultur von Teotihuacan hatte ein mythologisches Weltbild, das bei vielen schamanischen Völkern, ja selbst in den monotheistischen Religionen im Kern wiederzuerkennen ist. Sie hielten die gefiederte Schlange (später Quetzalcoatl genannt) für den zentralen Schöpfergott. Die Urquelle aller Kraft, der Fruchtbarkeit und des Lebens sind die Ahnen. In der unteren Welt, der Welt der Ahnen, liegt die Urquelle des Lebens und befruchtet von hierhaus die mittlere Welt – die Welt der Menschen. Alle Lebenskraft entspringt den Ahnen.
Hier hat auch der Weltenbaum seine Wurzeln und erhebt sich durch die drei Welten bis er in der oberen Welt seine Krone entfaltet. Ein anderes Beispiel für diese axis mundi, die Weltenachse, ist der Weltenberg im Zentrum der Welt.
2014 entdeckte der Archäologe Sergio Gómez einen senkrechten Schacht unweit des „Tempels der gefiederten Schlange" in Teotihuacan. Er führte 18 Meter in die Tiefe. Hier entsprang ein 138 Meter langer Tunnel. In ihm fanden die Archäologen über 50.000 Opfergaben: Muscheln, Weihrauchbehälter, Edelsteine u.v.m. Die Decke des Gangs war mit gemahlenem Pyrit verputzt, so dass das Gewölbe beim Lichteinfall der Fackeln funkelte und glitzerte. Der Gang ähnelt der Nahtodeserfahrung eines glitzernd-leuchtenden Tunnels. Meines Erachtens die physische Darstellung eines Seelenweges.
Der Tunnel endete in einer großen Kammer mit drei kreuzförmig angelegten Endapsiden. Spuren und Schlamm deuten darauf hin, dass diese Kammer einst mit Wasser geflutet gewesen sein musste. Sie war wie eine Gebährmutter der Urkeim der „Quelle des Lebens". Die Archäologen können sich bis heute nicht erklären, wie es dem Volk von Teotihuacan, das noch nicht einmal das Rad kannte, gelungen ist, die künstliche Kammer präzise unter das Zentrum der Pyramide der gefiederten Schlange zu setzen.
Im Schlamm wurden steinerne Wächterfiguren gefunden, Abbildungen der Ahnen. Sie blicken auf das Zentrum des Sees und den Brennpunkt der Pyramide, im mythologischen Weltbild der Keimort des Weltenbaums.
Das Gesamtensemble von unterirdischem Stollen, künstlichem See, Ahnenwächtern und darüber errichteter Pyramide ist so die physische Abbildung einer mythologischen Wirklichkeit: Der Weg der Seelen führt in der Unterwelt zurück zur Kammer der Ahnen, die, einer Gebährmutter gleich, die Urquelle allen Lebens beherbergt. Von hier steigen die Seelen die axis mundi, den Weltenbaum und den Weltenberg empor, um neu geboren zu werden.
So stellt die Pyramide der gefiederten Schlange mit dem Ahnenraum und dem Quell des Lebens unter ihr ein physisch gebautes Weltbild dar, das wir in vielen Kulturen wiederfinden: Bei den Germanen bewachten die drei Nornen am Fuße des Weltenbaumes Yggdrasil den Urdbrunnen. Auch ruht hier der Drache Nidhöggr. In der Bibel steht im Zentrum des Paradieses der Baum des Lebens, aus ihm entspringen die 4 Weltenströme und hier lebt auch die Schlange....
Teotihuacan, ein einzigartiges Beispiel gebauter mythologischer Wirklichkeit.
Schematische Darstellung mythologisches Weltbild © Leif Brönnle
Tempel der gefiederten Schlange © fotolia
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