Das Kreuz als Symbol wird allzu gerne und schnell dem Christentum zugeordnet, so als seien alle Kreuze ein Symbol dieser Religion. Wieder einmal ist jedoch das Kreuz als Symbol viel älter und archetypischer als es nur einer Religion zuordnen zu können.
Wie allen Symbole, die eine lange Geschichte der Abstraktion und des Anfüllens mit spezifisch religiöser Bedeutungsschwere hinter sich haben, liegt auch ihm eine Urerfahrung zugrunde. Damit soll hier auf keinen Fall behauptet werden, dass die hier beschriebene Urerfahrung die einzig mögliche ist, noch, dass dies in linearer Weise so zum Symbol des Kreuzes geführt hat. Vielmehr soll veranschaulicht werden, wie stark Symbole sich auf Urerfahrungen zurückführen lassen:
Stehen wir in einer offenen Landschaft, so umgibt uns der Horizont. Er ist allgegenwärtig und doch für uns nie erreichbar. Der ewig in sich selbst zurückführende Kreis ist ein Symbol des Göttlichen. Beobachten wir nun von unserem Standpunkt in der Landschaft die Auf- und Untergänge der Sonne (und des Mondes), so erleben wir, dass die Sonne Wendepunkte besitzt, Punkte des nördlichen und des südlichen Extrems. Verbinden wir diese Punkte diagonal miteinander (also den Punkt des Sonnenaufgangs zur Sommersonnwende mit dem des Sonnenuntergangs zur Wintersonnwende usw.), so entsteht – besonders in unseren Breiten - das Kreuz. So wird das Kreuz zunächst als ein Symbol der Welt erfahrbar, der Fixierung von Raum und Zeit. Auch aus den Kardinalhimmelsrichtungen lässt sich das Kreuz ableiten. Das Kreuz verbindet also den nicht erreichbaren metaphysischen Horizont (Gott) mit dem eigenen Standort. Das Kreuz holt die Göttlichkeit in die Welt. Da der Beobachtungspunkt von einem Menschen besetzt ist, zeigt das Kreuz symbolisch auch die „Menschwerdung“ Gottes.
Es wundert vielleicht den einen oder anderen zu hören, dass das Symbol des an das Kreuz fixierten Menschen ebenfalls kein rein christliches Symbol ist:
In der griechischen antiken Mythologie ist es beispielsweise Ixion, der König der Lapithen, der auf diese Art dargestellt wird. Ixion ermordete seinen Schwiegervater, wird aber von Zeus entsühnt und in den Olymp erhoben (wir bemerken, dass auch hier das Symbol der Entsühnung, der Vergebung der Verfehlungen und Sünden, indirekt mit dem Kreuz verbunden ist). Doch Ixion, dessen Name sich von ischys (Stärke) und io (Mond) ebenso ableiten lässt wie von der Mistel (ixias), verliebt sich in die Göttermutter Hera. Als Wolke, die die Gestalt Heras nachbildet und mit der sich Ixion sexuell vereint, enttarnt Zeus die Liebe des Ixion und verurteilt ihn dazu auf ein feuriges Radkreuz gebunden an den Himmel und später in die Unterwelt versetzt zu werden.
Als 1517 Francisco Hernandez de Cordova mit seinen Männern in Mittelamerika landete, war er nicht wenig erstaunt, hier auf Abbildungen von Kreuzen und sogar auf Abbildungen eines Mannes am Kreuz zu stoßen. Diese Synchronizität war so rätselhaft, dass der Mythos aufkam, der Apostel Thomas habe hier eine frühe Missionierung durchgeführt. Die Gestalt am Kreuz ist zum einen die göttliche Gestalt des Regengottes Tlaloc, zum anderen auch die oft mit ihm verschmelzende Gestalt der in mehreren mesoamerikanischen Kulturen, wie die der Tolteken, Azteken und Maya, verehrten Gottheit des Quetzalcoatl. Der Mythologie nach schleuderte Tlaloc/Quetzalcoatl einen Pfeil aus dem Holz des Pochotbaumes, der einen gleichartigen Baum durchdrang und so ein Kreuz bildete. Tlaloc ist – mit dem Symbol des Kreuzes verbunden – der Regen- und Fruchtbarkeitsbringer. Wir werden diesen Symbolaspekt gleich noch näher beleuchten.
Auch der sich selbst opfernde Odin wird – zumindest in neuzeitlicheren Darstellungen wie z.B. auch an dem aus den 1930er Jahren stammenden Atlantis-Haus in Bremen – in Kreuzesform die Arme ausbreitend dargestellt. Ältere, von der christlichen Vorstellung garantiert unbeeinflusste, Darstellungen Odins am Baum gibt es meines Wissens nicht. Dennoch ist die Darstellung des sich opfernden Gottes, der sich am Weltenbaume fixiert, so archetypisch, dass ich sie hier in die Reihe setzen möchte.
Das gleichschenklige Kreuz ist somit ein starkes Symbol für das in der physischen Welt wirkende Göttliche. Doch auch das kosmische Kreuz mit längerem Vertikalbalken ist kein rein christliches Symbol. Es taucht bereits als steinzeitliche Ritzzeichnung (z.B. Felsritzungen von Höll, Oberösterreich; oder Kienbachklamm/Bad Ischl) auf.
Das kosmische Kreuz ist stets stehend, vertikal gedacht. Es zeigt das Durchdringen des vertikalen Balkens durch den waagrechten Balken und lässt den vertikalen Balken damit dominieren. Das kosmische Kreuz hat damit starke Beziehungen zur Weltenachse (axis mundi): Das Vertikale (der Geist) dringt in das Horizontale (die Materie) ein – ein archetypisches Symbol der Befruchtung. Bei einigen Indianerstämmen Nordamerikas, wie auch im oben beschriebenen Gott Tlaloc, wurde das vertikale kosmische Kreuz daher meist auch im Kontext von Sexualität und Fruchtbarkeit verwendet. Im christlichen Verständnis vollzieht Christus geistig diese Bewegung im Sterbe- und Auferstehungsimpuls und durchgeistigt damit die Erde.
Die sexuelle Konnotation des Kreuzes vor allem in Nordamerika war den dort entstandenen „Zeugen Jehovas“ so suspekt, dass sie das Wort „Kreuz“ in ihren Schriften durch „Pfahl“ ersetzten, was m.E. eine viel stärkere phallische Konnotation hat. Jesus wurde hier also an einen Pfahl fixiert.
Keltisches Kreuz/Hausdach © fotolia
Grafik Kreuz/Sonnenaufgänge © Stefan Brönnle
Steinzeitliche Ritzzeichnungen © Stefan Brönnle)
Andere: Gemeinfrei
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