Gerade in Schwellenzeiten wie den Raunächten, dem Jahreswechsel, dem eigenen Geburtstag und anderen wird man sich durch das Bedürfnis der Zukunftsschau oder dem Jahresrückblick des wirkenden persönlichen oder kollektiven Zeitgeistes bewusst. Bei Ortswechseln wie Umzügen z.B. dagegen werden wir des Ortsgeistes gewahr. Grundsätzlich können wir diese zwei Hauptwirkungen der geistigen Ebene unterscheiden: Den „genius loci" und den „genius temporis".
Der Genius temporis bezeichnet den Zeitgeist, also jene geistig wirksame Kraft, die die Wirkrichtung epochaler Kräfte bestimmt. Es gibt einen Ausspruch, der besagt: „Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist!" Menschen, die am Zeitgeist quasi angeschlossen sind, sind Trendsetter; sie machen Vorgaben, denen breite Bevölkerungsschichten bewusst oder unbewusst folgen.
Wichtig ist, zu bemerken, dass der Genius temporis zunächst wie oben beschrieben durchaus als abstrakte Kraft aufgefasst werden kann. Er kann sich damit positiv oder negativ, unterstützend oder schädigend für die Menschen auswirken. Es obliegt der menschlichen Freiheit, diese Richtung der Wirkkraft zu bestimmen. Ein Beispiel: Der Zeitgeist kann so beschaffen sein, dass sich die Menschheit verstärkt der Ratio zuwendet und ihren Verstand entwickelt. Den Menschen aber obliegt es, dieses Potenzial positiv oder negativ zu nutzen: Atombomben zu entwickeln oder sich mit Philosophie und Ethik auseinander zu setzen. Natürlich lässt sich auch der Genius temporis in epochale Kräfte, Zeitkräfte oder Moden hierarchisch gliedern, sodass durchaus Feinunterteilungen in Wirkungsort und -dauer entstehen.
In gewisser Hinsicht kann der Genius temporis räumlich fassbar werden. Betrachtet man z. B. das zentrale geomantische Phänomen des Omphalos (d. h. „Nabel der Welt, Mitte"), so erkennen wir, dass es zeitlich begrenzt immer wieder bestimmte Orte gab, die ein ganzes Volk oder eine ganze Kultur als ihre geistige Mitte ansahen. Nach einer bestimmten Ära erfuhren diese Orte einen Niedergang und eine neue Mitte entstand. Solche geistigen Mitten waren und sind der Omphalos in Delphi, Golgatha, Rom, die Externsteine, oder der Altarplatz des Himmeltempels in Peking.
Der Gegenpol zum Genius temporis ist der Genius loci, der Geist des Ortes. Er bezeichnet die ortsspezifische Kraft, die über die Zeit hinaus konstant bleibt. Es ist die geistige Urebene des Ortes, die sich als abstraktes Prinzip ebenso manifestieren kann wie als personifiziertes Wesen. So brachten die Römer dem Genius eines Ortes Opfergaben dar, und bei ihren Eroberungen versuchten sie durch Gebete und magische Handlungen, den Genius einer belagerten Stadt zu beeinflussen, damit er den Schutz des Ortes aufgab.
Wie der Genius temporis kann auch der Genius loci in verschiedenen Hierarchien als Genius eines Volkes, eines Landes, einer Stadt oder eines Platzes Wirkung entfalten. Genius loci und Genius temporis wirken gemeinsam. Sie werden z. B. erkennbar in der Geschichte des Ortes. So kann man einerseits regional übergreifend die geistige Zeitqualität in der Geschichte ablesen, andererseits gibt jeder Ort dieser Zeltqualität sein persönliches Gepräge, sodass z. B. in der Geschichte einer Stadt immer wieder verwandte Vorgänge und Geschehnisse auftauchen. Meist werden Genius loci und temporis als einheitliches Wesen betrachtet und verehrt. So kann es in der Geschichte eines Ortes oder Landes vorkommen, dass die so wirkende geistige Kraft beider Pole in der Form einer Gottheit verehrt wird. Nach einiger Zeit wechselt die Darstellung dieser Gottheit, jedoch bleiben dabei bestimmte Merkmale und Attribute der alten Gottheit erhalten. Der Genius temporis hat gewechselt, der Genius loci blieb.
Eine der einfachsten und zugleich schwierigsten Methoden, sich der geistigen Ebene eines Ortes zu nähern, ist daher die Betrachtung seiner Geschichte. Einfach deshalb, weil uns oft über das Archivmaterial einer Stadt ausreichend historische Fakten bereit stehen, schwierig darum, weil es oft mühselig ist, sie zu entschlüsseln und die Gemeinsamkeiten zu finden, die den Genius loci charakterisieren. Ein Besuch im Archiv Ihrer Stadt lohnt auf jeden Fall. Besorgen Sie sich Bücher über die Geschichte Ihres Wohnortes und besuchen Sie das Heimatmuseum! Versuchen Sie jedoch dabei nicht, trockene Fakten in sich aufzusaugen oder auswendig zu lernen. Bemühen Sie sich besser um die Realitätsebene hinter den Namen und Daten: Wie wurde die Stadt gegründet (durch Gewalt, aufgrund einer Vision, durch eine Heldentat)? Welche Ereignisse von zentraler Bedeutung markieren ihre Geschichte und wie stehen diese möglicherweise in einem geistigen Zusammenhang? Kennen Sie das Gründungsjahr des Ortes, der Stadt oder des zentralen Gebäudes, so kann auch eine astrologische oder standortastrologische Analyse wertvolle Informationen liefern. Die meisten Informationen werden jedoch in Symbolen verschlüsselt sein. Deswegen ist es notwendig, sich mit den Symbolen auseinander zu setzen.
Seminartipp: Kräfte des Ortes: Die Ortswahrnehmung
Buchtipps:
Die Kraft des Ortes
Das Haus als Spiegel der Seele (Raumhoroskop & Standortastrologie)
Bild © Stefan Brönnle
Kommentare