Die Interpretation von Richtungsqualitäten ist eine typische geomantische Kunstfertigkeit. Wir finden sie im chinesischen Feng Shui ebenso wie im indischen Vastu, der Disciplina Etrusca, oder der christlichen Sakralarchitektur. Jede Himmelsrichtung hat ihre eigene seelische Wirksamkeit. Mit ihr verbunden sind in unserer seelischen Erfahrung unmittelbar auch Zeitqualitäten:
Der im Westen liegende Sonnenuntergang führt zur analogen Symbolik des Loslassens, Abschiednehmens, aber auch der Erdzugewandtheit (die Sonne wird von der Erde aufgenommen). Diese Grundausrichtung der Bedeutung erhält wiederum in den verschiedenen Systemen eine eigene Prägung.
Im Feng Shui wird der Westen der Wandlungsphase Metall zugeordnet. Metall lässt sich mit dem Schneiden assoziieren und so finden wir im Jahreskreis im analogen Herbst die Erntezeit. Darum ist auch der Westen (Metall) z.T. mit materiellem Wohlstand verknüpft. Das dem Westen zugeordnete Trigramm „Dui”, der „See“ (“das Heitere”) mit den Eigenschaften “fröhlich, heiter, leicht, hell“, orientiert sich an der Qualität des Feierabends. Die Arbeit ist getan, die Ernte ist eingeholt, die Atmosphäre ist entspannt.
Da der Westen mit einer Qualität verbunden ist, die in die Erde führt und damit verstofflicht, wird der Westen im indischen Vastu eher negativ bewertet. Hier sollten nach Lehre des Vastu Mauern eine Art „Schutzwall“ bilden. Auch mag dies auf die subtropischen klimatischen Verhältnisse Indiens verweisen, bei denen es am Nachmittag und frühen Abend von Westen her sehr heiß hereinscheinen kann.
Im Christentum steht mit dem Westen ebenfalls der Gang in die Materie im Vordergrund. Daher lagen im Westen der Kathedralen die Kaiser- und Königslogen, der weltlichen Autorität. Da dem Geist im Christentum eindeutig Vorrang vor der Materie gegeben wird, galt der Westen auch als Sitz des Bösen. Dies wiederum führte zu Michaelskapellen im Westen großer Kirchen zur Abwehr dämonischer Kräfte. Im Westen erleben wir die Materie, die Körperlichkeit. In der christlichen Sakralarchitektur findet man im Westen z.B. Marienaltäre (Westaltäre), die den Christusaltären im Osten gegenüberstehen. Es ist die Mutter, die Mater, die Materie. Auch kollektiv steht “der Westen” stets für Materialismus (USA) während im Osten Spiritualität gesucht wird (Indien, China).
Das Raumhoroskop setzt im Westen die Tierkreiszeichen Jungfrau und Waage an. Die Jungfrau korrespondiert mit der Ernte (des Herbstes), die Waage, mit der abendlichen Zeitqualität des Loslassens, der Muse und der Entspannung. Auch die erwähnten Marienaltäre (Jungfrau) und Michaelskapellen (Waage) im Westen der Kirchen stellen eine solche Synchronizität dar.
Die Pawnee-Indianer gestalteten dagegen nach Westen orientierte Altäre und wendeten sich der Qualität des Erdhaften, „Mutter Erde“, positiv zu.
Mit dem Loslassen verbunden ist auch das Sterben: Die Nekropolen Ägyptens lagen westlich des Nils. Der Westen ist die Richtung der Ahnenkräfte. Re, der Sonnengott, fährt mit seiner Barke im Westen in die Unterwelt. Auch ein Grund, warum der Heilige Michael mit der Seelenwaage im Westen der Kirche zu finden ist. Selbst die Jenseitswelt Avalon nimmt den sterbenden Arthus auf, indem dieser mit einem Boot nach Westen geschickt wird….
Die Richtungsqualitäten des Westens in Kürze:
Ernte, Loslassen, Entspannung, Erd- und Materiezugewandtheit, Tod, Ahnen
Bild © Stefan Brönnle (Grundlage fotolia)
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