Märchen sind Mythen mit einer tiefen Symbolik. Sie greifen zurück auf kulturelle seelische Erfahrungsschätze. Viele dieser Seelenerfahrungen reichen dabei weit in die grundlegende Beziehung von Erde und Mensch hinein. In dieser Reihe wollen wir dem geomantischen Gehalt einiger Märchen nachspüren.
Wer das Märchen nicht kennt und noch einmal lesen möchte, findet es hier:
Im Märchen >Dornröschen< begegnet uns der Übergang von einer matrifokalen, einer mutterzentrierten, lunaren Kultur zu einer patriarchalen, solaren Kultur.
König und Königin wünschen sich seit langem ein Kind. Ein Gesicht im Wasser weissagt der Königin, dass sie schwanger werden wird. Der Spiegel der Wasserfläche ist gleichsam ein Portal in das, was die Kelten die „Wasserwelt“ nennen, besser bekannt auch als die „Anderswelt“. Dieses „Reich“, dieser Bewusstseinszustand ist nicht ganz physisch, aber auch nicht nur geistig, er ist gleichsam fein-stofflich. Es ist eine paradiesische Welt, zu der indigene Kulturen bis heute noch leicht Zugang finden. Unsere patriarchale, mental ausgerichtete Kultur jedoch hat das Paradies verloren, wurde aus ihm vertrieben. Jenen Bewusstseinszustand, den C.G. Jung auch als „Unio mystica“ bezeichnet: Der Einheitszustand mit der Natur und ihren Kräften. Matrifokale Kulturen waren und sind sehr stark in diesem Bewusstseinszustand, sie leben sozusagen bis heute „im Paradies“.
Nun, die Prophezeiung tritt ein, ein Kind wird geboren und in der Freude darüber, plant der König ein Fest: „Er lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten ein, sondern auch die weisen Frauen, damit das Leben dem Kind hold gesonnen wäre. Es waren ihrer dreizehn. Weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben.“
In dieser Schlüsselszene des Märchens wird uns der Übergang der verschiedenen Gesellschafts- und Bewusstseinstrukturen sehr deutlich vor Augen geführt. Die geladenen „weisen Frauen“, die erst später zu Feen werden, sind 13. Die Zahl, die heute als „Unglückszahl“ gilt, war jedoch früher in erster Linie eines: Eine lunare (mondbezogene) Zahl: 13 Mondmonate hat das Jahr. Die „Weisen Frauen“ stammen also aus einer lunaren Kultur. Sie sollen das Kind segnen. Doch der König stammt bereits aus einer anderen Kultur: Er besitzt nur 12 goldene Teller. Die Zahl 12, ebenso wie das Gold verweisen auf die Sonne. 12 Sonnenmonate hat das Jahr, d.h. die Sonne durchwandert in einem Jahr 12 Zeichen des Zodiaks. Die 13 wird also verdrängt, die dreizehnte Frau kann nicht geladen werden. Jede Verdrängung lebt als „Schatten“ weiter in uns selbst wie auch in der Ausrichtung einer Kultur und wird nunmehr als „böse“ angesehen. Die 13. der Weisen Frauen prophezeit dem Kind seinen „Tod“, sobald es in die Pubertät kommt. Das Wissen der Frauen kann an sie nicht mehr weiter gegeben werden. Insofern „stirbt“ sie, sobald sie den Paradieszustand der Kindheit verlässt. Doch eine der anderen Frauen erbarmt sich und lässt den Tod zu einem Schlaf werden. In diesem kann das Kind- unbeeinflusst von der physischen Realität – in der Paradieswelt, in der Unio mystica verweilen. So gesehen wäre es also kein Fluch, sondern ein Rettungsversuch für die patriarchale, linear denkende, mentale Kultur.
Auch das Instrument, dass diese Schwellensituation auslösen soll, ist höchst symbolisch: Eine Spindel. Die Spindel – im Grunde ein um seine Achse rotierender Stab – ist ein Symbol der Weltenachse (axis mundi). Diese Symbolik ist interkulturell anzutreffen. Im Schöpfungsmythos der Maya Zum Beispiel, hebt der Maisgott den Himmel aus dem Urmeer hervor, errichtet die zentrale Weltenachse und versetzt Himmel und Kosmos in Drehung. Das Wort für " in Drehung versetzen" ist heute noch mit dem gebräuchlichen Wort für das Kreisen der Spindel bei der Garnherstellung identisch. In Rom war gar bisweilen das offen zur Schau getragene Herumtragen einer Spindel verboten. Die Weltenachse ihrerseits ist aufs engste mit der heiligen Mitte, dem Paradieszustand verbunden.
Aus Angst vor der Prophezeiung, werden alle Spinnräder des Landes und mit ihnen die Spindeln vernichtet. Ein Versuch, das Schicksal manipulieren zu können, indem man den „Spinnerinnen des Lebensschicksals“ ihr Werkzeug nimmt (Siehe auch die drei Nornen der germanischen Mythologie).
Doch Dornröschen begegnet ihrem Schicksal schließlich im obersten Zimmer eines Turmes. Auch hierin erscheint das Symbol der Weltenachse erneut. Die axis mundi im Zentrum, ist ein unmittelbarer Kanal in die Paradieswelt. Dornröschen fällt in ein „Koma“, sie träumt fortan die Welt wie auch z.B. in der Vorstellung der Aborigines, die Welt immerwährend erträumt wird. Dieser Traum erfasst das ganze Reich. Hier gibt es keine Zeit, doch in der physischen Welt geht die Zeit weiter.
Die Hecke als Schwellensymbol: Eine undurchdringliche Dornenhecke wächst um das Königreich. Sie repräsentiert die Schwelle unseres Bewusstseins. In der Tat haben wir in unserer westlichen Kultur einen Bewusstseinszustand eingenommen, der uns den Zugang zur Paradieswelt, in der wir als Schöpfergestalten unsere Welt erträumen, verwehrt wird. Wollen wir dorthin, müssen wir die gefährliche „Hecke“, den Hag, überwinden. Einige Zeit vollzogen diesen Schwellenübergang auch spezielle Personen für uns, die Haga-zussa (Hag, Hecken, Zaun + Reiter) genannt wurden: Hexen. Doch die Gesamtkultur als solche bleibt außerhalb der Schwelle, der Hecke.
Entgegen wiederum der „Walt Disney-Version“ ist es nicht etwa der Prinz, der Dornröschen befreit. Vielmehr, erhält der Prinz überhaupt nur Zugang, weil ein Zyklus (100 Jahre) vollendet ist. Dornröschen wäre also so oder so erwacht ;-) .
Der Prinz tritt hier als Vertreter der physischen Außenwelt auf. Die Verbindung der Prinzessin aus dem Paradies und des Prinzen aus der materiellen Realität in einer Himmlischen Hochzeit, die in der Weltenachse (Turm) zu einander finden, mag eine prophetische Vision sein, dass dereinst Paradieswelt und materielle Realität wieder zu einander finden, wenn der Zyklus vollendet ist….
Weitere Märcheninterpretationen der Reihe: Schneewittchen
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